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Die Messe ist gelesen

Natürlich! Natürlich schreibe ich über die Messe. War sonst noch irgendetwas von Bedeutung in der letzten Woche? Kann gar nicht sein! (OK. St Pauli hat 1:1 gespielt und so am Wochenende mehr als Unendlich mal so viele Punkte geholt wie der HSV)
Ich probiere mich aber eher an ein paar Eindrücken, anstelle von haarkleinen Aufzählungen welche Spiele ich wo gegen wen verloren habe oder wie viele Mikrogramm an spielbaren Hardkarton ich mit nach Hause geschleppt habe.
Aber ich nummeriere die Absätze mal. Sonst wirft man mich aus der Bloggergewerkschaft. Am besten Rückwärts, das ist modern! (Ich muss mir dann aber vorher überlegen, wie viele Eindrücke ich teilen will)

10.) Der Tod des „Überfliegers„. „Überflieger“ war schon immer ein dämlicher Begriff. Aber 2013 wurde (zumindest in meinem Blog) zuletzt darüber diskutiert. Damals gab es nämlich keinen. Retrospektiv erschienen 2013 übrigens u.a. Russian Railroads, Concordia und Loveletter. Aber egal- niemand erwartet mehr „den Überflieger“ und das ist gut so. Die Messe ist dem doch ganz schön entwachsen. Wo jeder nur ein paar Prozent sieht, sieht auch ein, dass er gar nicht beurteilen kann, ob da etwas für jeden dabei wäre.

9.) Apropos: Auch Scoutlisten sind tot. Zumindest ein bisschen. Es ist schon witzig. Eigentlich sollte man denken, die würden immer mehr an Bedeutung gewinnen, jetzt wo niemand mehr auch nur einen Bruchteil der Neuheiten „schaffen“ kann. Tatsächlich aber bilden die Listen in erster Linie den Vor-Messe-Hype ab. Es sind mehr oder minder exakt die Spiele auf den Scoutlisten, die vorher auf den „Will ich mir ansehen“-Listen zu finden waren. Wer es schafft, vor der Messe „Buzz“ zu erzeugen, der wird auch gescoutet. Das ist nicht so überraschend: Bei der Menge an Neuheiten siebt jeder im Vorfeld aus, schafft nur seine Favoriten und das sind dann auch die, die gespielt werden und dann bewertet werden können. Wenn die dann nicht komplette Grütze sind (und das sind ja nun wirklich die wenigsten Spiele mittlerweile) werden die auch entsprechend oft gut bewertet. Die Aussagekraft ist gering. Spannend wirds nächstes Jahr: Wenn die nächsten Spiele der Autoren und Verlage der Scoutlisten wieder so viel Vorfreude entwickeln, dann waren die Spiele wohl wirklich zurecht auf den Listen. Im Moment sind Scoutlisten eher selbsterfüllende Prophezeihungen.

8.) Fressen und gefressen werden: „Messetrends“ sind auch tot. Aber manchmal fällt einem etwas witziges ins Auge. Dieses mal gab es mindestens vier Spiele mit dem nicht ganz alltäglichen Thema „Auf einer Insel zwecks Überleben Mitspieler töten und/oder Aufessen“: Hunger- The Show, Who do we eat, Hellapagos und [Trage ich nach, sobald mir der Titel wieder einfällt]. Zufällig habe ich zwei davon an einem Tage gespielt. Hellapagos war das bessere. 1999 galt Frischfleisch noch als sehr gewagtes Thema. Zeiten ändern sich. Und wo wir bei „skurill“ sind: „Schmusekampf“ ist m.E. keine adäquate Übersetzung von „Battle in the bed“.

7.) Ausverkäufe und Nichtverkäufe: Wieder waren viele Spiele schon vor dem Wochenende ausverkauft -auch mein Lost Expedition – wobei Japan Brand den Vogel abschoss – Bereits am Donnerstag um 9.50 war Perfect Hotel weg. Die Journalisten waren diesmal weitestgehend unschuldig; die Türen wurden bereits um 9.40 geöffnet. An anderen Ständen war dagegen tote Hose und nicht immer weil die gezeigten Spiele schlecht wären. Manchmal waren es fehlende Infos vor der Messe und manchmal auch Pech. Selbst Splotter hat vermutlich erstmals nicht ihre „Neuheit“ (Kiek) ausverkauft – keiner wusste davon.  Es gilt also wieder: Buzz ist alles. Die Schere öffnet sich weiter in die Spiele, die sich alle ansehen wollen, weil sich die alle ansehen wollen und die Spiele, die keiner sehen will, weil sie keiner kennt. Designer Diaries, Trailer, ein bekannter Name und gute Graphiken werden immer wichtiger, trotz steigender Besucherströme.

6.) Logistik: Apropos „Besucherstrom“, die Messe wird voller. Immerhin fuhren mehr U-Bahnen und das war ein großer Vorteil gegenüber 2016. Wofür die Messeleitung nichts kann. Auch der zweite Eingang ist hilfreich, ein dritter oder vierter könnte nicht schaden. Jedenfalls ist das Gedrängel vor der Messe so groß gewesen, dass immer vorzeitig geöffnet wurde. Gut für unsereins, etwas unberechenbar für das Standpersonal (insbesondere Kleinverlage). Sollte man vielleicht generell früher aufmachen oder verschiebt sich das Problem nur? Ich persönlich wäre lieber um 9.00 da (oder auch um 9.30, wenn die Messe dann schon eine halbe Stunde läuft) und dafür später noch auf (organisierten?) Veranstaltungen, ergo würde mir dann auch ein Messeschluss um 18.00 reichen. Weiß aber nicht, ob das konsens ist. Oder man macht die Messe um 5.00 auf, dann gibt es garantiert weniger Andrang.

Toiletten sind übrigens zwar übervoll, aber das liegt auch an den Besuchern, die sich alle in Halle 3 aufhalten und nicht wissen, dass es oberhalb der Rolltreppe am Eingang auch Toiletten gibt. Die immer frei sind. Was Essen betrifft: Wer nicht antizyklisch essen will, kann aus den drei Kategorien „Kurze Anstehzeiten“, „Gutes Essen“, „Bezahlbare Preise “ eine wählen. Aber gefühlt zumindest etwas variableres Angebot als letztes Jahr.

5.) Versteigerungsspiele: Nachdem jetzt etwa 10 Jahre praktisch kein Verlag irgendetwas anfassen wollte, das auch nur im entferntesten nach „Versteigerungsspiel“ riecht, sind auf dieser Messe wieder ein paar Vertreter erschienen. Ob die was taugen, weiß ich (noch) nicht – aber immerhin. Allerdings kommen die allesamt aus dem Ausland. Und/Oder es waren  Modern Art-Ausgaben. In Deutschland hilft als Autor nur weiterhin Ceci n’est pas une Versteigerungsspiel.

4.) Die Anzahl der Asiatischen Verlage hat sich noch einmal enorm gesteigert und könnte die Anzahl der Amerikanischen Verlage erreicht haben, was Messepräsenz betrifft. Auch das Spektrum des Angebotenen ist recht groß, wobei die Spiele generell eher klein sind, aber oft graphisch den hiesigen Produkten überlegen sind. Insbesondere die Spiele von TBG waren graphisch phänomenal (Labours of Hercules könnte das schönste Kartenspiel sein, dass ich in den letzten 24 Monaten gespielt habe) – schade, dass spielerisch nicht immer gut war, was optisch glänzte. Aber den Hauptzweck hat die Graphik erfüllt: Die Spiele waren im Dauerbetrieb. Der Markt „Asien“ wird jedenfalls wichtiger. Und der Indonesische Verlag Manikmaya Games war wieder da – mit mehr Spielen als je zuvor. Und auch hier herrschte Dauerbetrieb, ich hatte jedenfalls keine Chance auf ein Testspiel.

3.) Stichspiele erleben eine neue Renaissance. Es gab sie natürlich immer – gerade bei kleineren Verlagen. Aber dieses Jahr kamen insgesamt so viele qualitativ gute und vor allem auch originelle Vertreter heraus wie zuletzt beim großen Stichspielboom der 90er: Familiars Trouble, Cobras, Spires, Indulgence, Voodoo Prince, Mexican Standoff, Druids, Cuckoo (wenn man zu Stichspielen zählt). Es gibt anscheinend wirklich keine Tabus mehr, was Mechanismen betrifft.

2.) Hallenlayout: Neue Hallen und insgesamt subjektiv deutlich unübersichtlicher als letztes Jahr. Halle 8 mit den mehreren Zwischengängen und die volle Halle 7 verwirrten mich. Dafür war die Halle 6 zwar etwas wild zusammengestellt (Rollenspiele, Brettspiele, Comics, Krams, Tabletops) aber deutlich leerer als die letzten Jahre. Rollenspieler wandern zu reinen Rollenspielmessen ab, die Comicmesse ist weiter ausgedünnt. Ob letztere ihren Platz auf Dauer behält, bezweifle ich so langsam. Zumal die Comicstände dieses Jahr nicht einmal beieinander waren – lohnt sich das noch für Comicschaffende? (Ernste Frage, ich habe keine Ahnung!) Optimierungsbedarf vermutlich auch, was Warteschlangen betrifft. Immerhin war der „Heidelberger“-Einkaufsparcour diesmal anders herum, so dass die Eckstände in Halle 1 am Ausgang standen und so nicht von den Schlangen bedeckt wurden. Dafür gab es wohl an anderen Stellen Probleme (wobei ich mich frage, warum man stundenlang ansteht, um ein Spiel zu kaufen, dass man während der Wartezeit auch im Internet bestellen könnte und vermutlich geliefert bekommt, bevor man am Stand angelangt ist. Aber das bin ich). Prinzipiell freut mich der Andrang, weil mich es freut, wenn unser Hobby weiter an Betrieb gewinnt und hoffe dass die Messe Eingangs- und Hallenplatzmässig noch aufstocken kann. Am Rande: „Es wird wieder gespielt“ wurde gefühlt in jedem Fernseh/Rundfunk-Beitrag über die Spiel verkündet und meine Mutter (!) meinte dazu: „Das haben sie schon 79 beim Spiel des Jahres gesagt, in den 80ern als die Perlhuhnspiele (Frankh-Kosmos) bei Du und deine Welt gezeigt wurden und als Siedler von Catan rauskam. Wann wurde denn mal nicht gespielt?“ Ich lass das mal so stehen.

1.) Leute! Ich habe einige interessante Spiele gespielt, einige gute, einige schlechte, einige schöne, einige originelle und einige die ich aus diversen Gründen nie wieder spielen will oder kann oder beides. Doch mittlerweile ist für mich fast das wichtigste die Chance, Leute zu treffen, die ich sonst niemals treffen kann. Sei es die Bloggerszene, seien es Autoren oder Verlagsvertreter (Hans Rüttinger hat mein Big Citiz gespielt! Und es hat ihm gefallen. Wow!), die ich nur in Essen sehe und mit denen ich zumindest kurzzeitig quatschen konnte (und leider eine Menge die ich verpasst habe). Insbesondere aber die Internationalen Gäste sind für mich ein Grund, nächstes Jahr wieder mehr Besuchszeit einzuplanen. Tatsächlich habe ich Twitter-Freunde aus wortwörtlich aller Welt getroffen und das war für mich vielleicht das größte Ding überhaupt.

Apropos Twitter: Es hat sich durchaus gelohnt, der Messe zu folgen. Neben Spieleindrücken, erfuhr man von der Zeitumstellung, nicht fahrenden Zügen, einem versuchten Raub nebst Täterbeschreibung und dass ein Verlag in Halle 8 wohl „lustige“ Vergewaltigungswitze in seinen Spiel eingebaut hat. Auch das ist eine Seite der Vielfalt, des Erfolges der Messe. Aber darüber meckere ich ein anderes Mal. Jetzt darf und soll auch mal das Positive, das Freuen über untergebrachte Prototypen, 3 Essenneuheiten (2+2, Lost Expedition, Big Cityz), diverse Einkäufe, Neue Freunde UND ALL DAS WUMMPSIGE der Messe im Mittelpunkt stehen. Die Welt drumrum ist schon schlimm genug, da darf man auch mal eine Woche lang unkritisch sein.

Gute Nacht,

Peer

Peer Sylvester
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1 Kommentar

  • Ich hatte leider nur einen Tag auf der Messe. Dabei habe ich
    – Gaia Project ausprobiert, gemerkt, dass es mir zwar (noch) besser gefällt als Terra Mystica, aber zu ähnlich ist, als dass ich gerne beide hätte
    – das erste Mal Captain Sonar gespielt und mich direkt von dem ungewöhnlichen „Echtzeit-Thrill“ begeistern lassen. Definitiv mal eine neue, interessante Idee.
    – Bios: Genesis von Sierra Madre Games ausprobiert. Die Umsetzung des Themas wirkte sehr, sehr überzeugend. Leider war der Autor selbst zwar sehr sympathisch, aber nicht mehr ganz in denr Regeln des ersten Teils (Bios: Genesis) drin, so dass es sehr schwer war zu beurteilen, ob auch die Mechanik entsprechend gut ist. Ich habe es nachher risikiert, Bios: Megafauna 2 mitzunehmen, weil mich dort das Thema extrem interessiert und ich die Information hatte, dass es taktischer/weniger glücksabhängig als der erste Teil sein soll.
    – mein „komplexes Highlight“ der Messe angespielt, nämlich „Wir sind das Volk 2 +2“ (der Hauptgrund, meine vermutlich für die meisten uninteressanten Kurzeindrücke hier zu kommentieren, um noch etwas positives Feedback dazulassen). Ich hatte das Grundspiel noch nie gespielt, hatte es aber schon länger auf meiner Liste, „was ich mir irgendwann mal anschauen will“. Da ich so selten zu zweit spiele, hat aber erst die Erweiterung es im Dringlichkeitsbereich der Liste ganz weit nach vorne geschoben, noch zusätzlich durch die etwas ungewöhnliche Idee „Teams, aber es gewinnt nur einer“. Das Anspielen der ersten Dekade auf der Messe hat mich dann endgülitg von beidem überzeugt, das Spiel (sowie die Erklärung, die nämlich auch Gründe für einige „Design Choices“ beinhaltete) hat einen sehr guten + durchdachten Eindruck gemacht. Bin schon sehr gespannt darauf, wie sich die Einschätzung und ein Überblick über Strategien der vier Parteien mit einigen Spielen entwicklen wird.

    Ansonsten habe ich nur gestöbert/gekauft, an einem Tag kann man nicht so viel unterbringen. Die absurde Schlange bei Feuerland ist mir auch aufgefallen, aber zumindest hat sie, als wir sie sahen nur den eigenen Stand/Testebereich verdeckt. Wenn dadurch wirklich andere Stände schwerer zugänglich waren, finde ich das auch nicht ganz so nett…