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Vergängliches

Ich habe mich seit langer Zeit damit abgefunden, dass es bestimmte Verhaltensweisen gibt, die ich nicht nachvollziehen kann. Mein Verhältnis zu Goodies und Erweiterungen ist anscheinend z.B. deutlich entspannter als das vieler meiner Mitmenschen. Jedenfalls denke ich nicht, dass Carcassonne plötzlich unvollständig wird, nur weil 15 Jahre nach dessen erscheinen , ein entsprechendes Goodie in einem Adventskalender steckt. Radikal, ich weiß.

Ähnlich gelagert ist mein Verhältnis zu dem Legacy-System und zu T.I.M.E Stories, beides anscheinend Ausgeburten des Kapitalismuses wenn man manches Post in den diversen Foren für bare Münze nimmt.  Nun habe ich beide noch nicht gespielt, aber ich möchte mir die Vorwürfe ein bisschen näher ansehen. Natürlich sei jedem seine Meinung gegönnt -und ich kann es durchaus nachvollziehen, wenn jemand entscheidet Spiel x it nichts für ihn – auch wenn dieses x für Pandemic Legacy steht. Schließlich sind andere Spiele auch nichts für mich – ich habe z.B. keinerlei Interesse an Caverna – dennoch erscheint mir manche Reaktionen sehr übertrieben. Für den einen oder anderen ist die blosse Existenz dieser Spiele bereits eine Beleidigung oder zumindest erstes Zeichen der drohenden Apokalypse (wieder einmal)

Beginnen wir einmal mit T.I.M.E Stories. Was ist daran so schlimm? Nun, erst einmal ist T.I.M.E Stories ein Szenariobasiertes Spiel. Dabei gilt in der Regel, dass ein bereits gelöstes Szenario nicht noch einmal gespielt werden wird, da das Lösen des Falles im Vordergrund steht. Das ist nichts neues. Das Spiel des Jahres 1985, Sherlock Holmes, kam bereits mit einer limitierten Anzahl Fälle, ebenso Tatort Nachtexpress. Beide Spiele gelten als Klassiker. T.I.M.E. Stories ist jetzt insofern anders, als dass nur ein einziger Fall in der Grundbox enthalten ist. Das ist allerdibgs sehr wenig – man könnte argumentieren, es liegt ziemlich dicht am theoretischen Minimum – allerdings wird man diesen einen Fall mindestens zweimal spielen müssen (eher mehr – aus Internetberichten schließe ich auf 3-5 durchschnittliche Partien) um ihn zu lösen. Ich kann nun verstehen, wenn einem ein Brettspiel zu teuer ist, wenn man es vielleicht 3-4x spielt. Zumindest wenn man es vorher weiß, dass man es nur drei bis viermal spielt – viele Spiele hier in meiner Sammlung habe noch keine dreimal gespielt… ;-) Allerdings ist das nicht unbedingt eine bemerkenswerte Entwicklung. Zum einen bin ich das als Rollenspieler durchaus gewohnt. Abenteuerbücher für Rollenspiele spiele ich auch nur einmal. Und es gibt im Erzählbereich mittlerweile durchaus einige Spiele, die von Überraschungen leben (wie Out of Dodge). Aber vor allem sehe ich T.I.M.E Stories als eine Art analoge Steam Engine für Brettspiel-Versionen klassischer Computeradventures. Auch bei Computeradventures zahle ich eine vergleichbare Summe (früher deutlich mehr als heute – Für Laura Bow habe ich noch 120$ bezahlt. Die gibt mir auch niemand wieder) und die spiele ich auch nur einmal durch. Das dauert allerdings zugegebenermaßen länger. Dafür habe ich hier wieder schickes Material… Wie gesagt, es ist natürlich am Ende Geschmackssache, ob man das Spiel wirklich kaufen will oder nicht. T.I.M.E Stories ist aber nicht der kapitalistische Antichrist, als welcher er gerne dargestellt wird – es ist lediglich die analoge Version einer Sache, die in einem anderen Medium (Computerspiele) oder einem anderen Spielegenre (LRPG, bzg. moderne Erzählspiele) bereits so normal ist, dass sie nicht weiter wahrgenommen wird.

Noch viel schlimmer ist aber das Legacy-System. Bereits als Risk Legacy angekündigt wurde, wurde darüber gelästert.  Lew Pulsipher schrieb z.B. das Spiele sei ein Zelebration der Zerstörung, ein Triumpf des Kapitalismuses. Jetzt wo Pandemic Legacy bei Boardgamegeek die Nummer 1 erreicht hat, sind die Angriffe eher mehr geworden (Das Leute es als ihre heilige Pflicht zu halten scheinen, ein auf subjektiven Wertungen basierendes Ranking eine „wahre“ Reihenfolge zu geben, gehört auch zu den von mir nicht nachvollziehbaren Spleens der Szene). Was ist denn nun so schlimm an Pandemic Legacy? Nun, will man Szenariobasierte Spiele wie Sherlock Holmes oder T.I.M.E Stories einmal gelöst nicht noch einmal spielen (außer man kauft Szenarien dazu), so kann man das bei den Legacyspielen nicht. Zumindest nicht, ohne das Spiel erneut kaufen zu müssen. Wobei: Ganz stimmt das nicht: Man kann die durchgenudelten Spiele durchaus weiterspielen (mit den fialen Regeln), nur gibt es nun einmal keine Entwicklung mehr und die war ja der usprüngliche Punkt des ganzen. Aber das ist m.E. nur nebensächlich – für mich zählen zwei andere Argumente deutlich mehr: Zum einen spielt man Pandemic Legacy mindestens 12mal, theoretisch sind 24 Partien drin (wenn jeder Monat erst einmal verloren wird) – realistisch sind vermutlich 14-18 Partien. Risk Legacy ist auf 15 Partien ausgelegt. Ich finde es sehr merkwürdig, wenn dieselben Spieler, die stolz ihre Nickels  & Dimes – Listen posten, nach denen sie vielleicht vier bis sechs Spiele zehnmal in einem Jahr gespielt haben, nun plötzlich so tun, als wären 15 Partien unglaublich wenig. Selbst 12 Partien desselben Spieles sind für o manchen Allesausprobierer schon eine recht hohe Anzahl. Und Risk Legacy hat durchaus gezeigt, dass man auch wenn man weiß, was kommt, das ganze durchaus noch einmal spielen kann, wenn man denn will (wobei ich auch kaum glaube, dass ich mir ein zweites Pandemic Legacy kaufen würde, wenn ich das erste durch habe…). Was ich aber für schlichtweg falsch halte, ist die Fundamelntalkritik, dass sich das Spiel ja permanent verändert. Kauft man sich ein neues Spiel (egal welches), gibt es bestimmte Startkriterien und bestimmte Regeln. Die Spieler nehmen das so hin. Was bei Pandemic Legacy jetzt anders ist, ist dass sich diese Regeln von Partie zu Partie verändern. Aber letztlich macht es doch gar keinen Unterschied, ob man die Regeln von einem unbekannten Autoren vorgesetzt bekommt, oder ob sich Startaufstellungen und Regeln aufgrund der vorheriegen Partien entwickelt hat – es ist in meinen Augen nichts anderes, als ob man eine leicht unterschiedliche Version desselben Spieles gekauft hat. Nur dass man zwischen den Partien kein Geld ausgibt. Im Prinzip könnte man Pandemic Legacy so sogar als eine Art selbstorganisiertes 504 verstehen ;-)

Doch das größte Argument habe ich mir zum Schluß aufgehoben: T.I.M.E Stories und das Legacy-System sind schon deshalb keine bösen Vorzeichen einer Industrie, die auf kurze Lebenszeiten und Abzocke setzt, weil die Spiele so sind, wie sie sind, um etwas bestimmtes zu erreichen. Ich habe in der Vergangenheit schon öfter geschrieben: Das Problem bei Brettspielen gegenüber z.B. einem Buch, einem Film oder einem Computerspiel ist, dass es in herkömmlichen Brettspielen im Prinzip keine Überraschungen gibt: Da im Vorfeld alles durch die Regeln abgedeckt werden muss, was passieren kann, kennt man eben auch alles was prinzipiell passieren kann. Szenariobasierte Spiele oder das Legacysystem füllen jetzt diese Lücke. Und sie tun genau das: Eine Lücke füllen. Die Gefahr, dass alle Spiele in ein paar Jahren „vergänglich“ sind, ist nichtexistent. Es wird weiterhin abstrakte Spiele geben, es wird Deckbau und Worker Placement geben und es wird vielleicht vermehrt Szenariobasierte Spiele geben. Aber eben nicht nur. Die Apokalypse kann aus verschiedenen Richtungen kommen, aus Szenariobasierten Spielen kommt die definitiv nicht.

ciao

peer

Peer Sylvester
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9 Kommentare

  • Dickes /sign.

    Du hättest noch die Krimipartyspiele erwähnen können, die ja auch nur einmal gespielt werden können. Und die „boomen“ auch schon eine Weile.

  • Danke Matthias, das war ein sehr guter Hinweis – an die hatte ich tatsächlich nicht gedacht! Die spielt man tatsächlich noch seltener als T.I.M.E Stories…

  • Die Fundamentalkritiker sollten beide Spiele mal anspielen, für mich war Pandemic Legacy das beste Spielerlebnis der letzten Jahre, evtl. sogar aller Zeiten. Auch die beiden Time-Stories-Abende über die Feiertage waren sehr intensiv. Ich hole mir jetzt erstmal Sherlock Holmes, was ich noch nie gespielt habe.
    Außerdem denke ich, dass es gar keinen Markt für mehr als zwei, drei große Legacyspiele pro Jahr gibt. Da dürfte auch Vielspielern einfach die Zeit fehlen, sowas durchzuspielen. Wir spielen Pandemic mit Wenigspielern seit kurz nach der Messe und sind jetzt nach 16 Partien im Dezember angekommen. Das ist eine ziemlich realistische Timeline mit normalen Leuten, denke ich. Matthias‘ Idee vom Binge Playing machen vermutlich doch nur sehr wenige Spieler. Mit Vielspielern will ich auch nicht unbedingt sechs Wochen am Stück an einem Spiel sitzen, schon gar nicht nach der Messe.
    Dein Gedanke zu den Überraschungen ist sehr interessant, ähnlich sehe ich es auch, hatte das aber noch nicht ganz zu Ende gedacht. Der Autor spricht ja auch von normalen Spielen, die etwas von Und täglich grüßt das Murmeltier hätten und seinem Spiel als moderner Serie.

  • Ich denke für die Fundamentalkritiker ist die Grundidee schon so furchtbar, dass sie kein Interesse daran haben, es tatsächlich auszuprobieren – und wenn gibts ja auch selbsterfüllende Prophezeihungen. Letztlich ist es ja auch OK, wenn jemand ein Spielprinzip ablehnt – da steht jedem frei. Aber ganz so logisch sind die Argumente dann allerdings ja nicht ;-)
    Das Argument mit der Spieldauer ist auch sehr einleuchtend. Ich habe mich tatsächlich zum Binge-Playing verabredet, weil ich Pandemic Legacy sonst vermutlich gar nicht schaffen würde. Daher sind Legacy-Spiele für mich tatsächlich von der Warte aus nicht so interessant. Das Prinzip finde ich aber topp. (Ich bin auch begeistert von Rollenspielen, aber dafür fehlt mir im Moment einfach wirklich die Zeit. Das laste ich den RPGs aber nicht an ;-)

  • Kann mich bitte mal jemand aufklären, was „Binge Playing“ ist? Ist das quasi „Spielen bis zum Umfallen“?

  • @Thygra
    Der Begriff kommt vom Schauen der Fernsehserien. Die Leute die nicht jede Woche eine Folge schauen, sondern die gesamte Staffel am Stück, sei es auf DVD oder Netflix. Das bezeichnet man als Binge-watching.

    Richtig geplant schafft man 18 Runden Pandemic Legacy an 5 Abenden.

  • Danke. Binge Drinking ist mir fremd, der Begriff dazu auch. Binge Watching habe ich auch noch nie gehört, aber ich habe es zumindest schon mal gemacht mit einer Staffel „24“ innerhalb von 3 Tagen. :)