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Auf der Suche nach dem goldenen Pöppel

Nach einer Woche Rekonvaleszenz nun doch ein paar Federstriche zu Essen. Im Prinzip war die Woche Bedenkzeit ganz gut, denn letzte Woche hatte ich den wahren Trend der Messe noch nicht erkannt:

Der Trend dieser Messe waren weder Würfel- noch kooperative noch Workerplacement-Spiele (obgleich es von allen drei Kategorien eine Menge Vertreter gab) sondern es waren wir Spieler, die einer Chimäre nachjagden, der Chimären des „absoluten Überfliegers“ nämlich. Und ich nehme mich da nicht aus – letzte Woche hatte ich noch allen Recht gegeben, die meinten, diese Messe hätte viel Mittelmaß und wenig brilliantes zu bieten und den absoluten Überfliege gäbe es auch nicht. Mittlerweile sehe ich die Sache differenzierter:

Erst einmal ist die Aussage „Es gab viel Mittelmaß“ tatsächlich eine Nullausage: Es gibt immer viel Mittelmaß. Das impliziert ja das Wort „Mittel“. Dass es gefühlt mehr Mittelmaß gibt, liegt zum einen daran, dass es schlicht mehr Spiele gibt. Und damit nimmt natürlich auch der spielerische Mittelstand zu. Aber es gibt noch einen weiteren Effekt: Als ich Ende der 90er Jahre erstmalig bei der Spiel war, konnte ich einen einigermaßen hohen Prozensatz an Ständen von vorneherein ausschließen. Es gab viele Spiele, die einen sehr unprofessionellen Eindruck machten – nicht nur vom Material her, sondern auch vom Regelwerk (ein Autor konnte z.B. einmal eine offensichtliche Regelfrage nicht beantworten), vom Ansatz oder von der Spielart. Auch wenn es auf dieser Messe ein „Zoo Yathzy“ gab: Nicht nur ist die Anzahl der Spiele gestiegen, der Prozentsatz an potentiell interessanten Spielen ist mitgestiegen. Rein subjektiv würde ich sogar sagen, dass selbst der Anteil an Nicht-Spiele-Ständen (Autos, Druckerpatronen etc.) stark gesunken ist. Das verstärkt den Mittelmaß-Eindruck, denn wenn man vorher an Stand Nr- XX-123 einfach vorbeigelaufen war, ist dort jetzt vielleicht ein graphisch schönes, handwerklich solides Spiel ausgestellt – von „Uninteressant“ zu „Mittelmaß“ ist ein Qualitätssprung, der tatsächlich eher negativ wahrgenommen wird.

Hinzu kommt ein Jahr, dass (in meinen Augen) bislang weitestgehend Highlight-Los verlief. Dieser Eindruck wird schnell auf die Spielemesse übertragen, denn der Mensch neigt dazu, eher nach Bestätigungen seiner Hypothesen („Mittelmäßiger Jahrgang“) zu suchen, als nach Wiederlegungen.

Überhaupt kann niemand alle neuen Spiele auch nur ansatzweise erfassen und spielt eine zufällige Auswahl. Trotz Scoutlisten ist es so schwer einen „absoluten Überflieger“ auszumachen. Aber das war in der Vergangenheit auch immer so. Dieses Jahr kommen ein paar weitere Effekte hinzu: Zumindest ein potentieller Überflieger (Terra Mystica) war früh ausverkauft und wurde daher von vielen erst einmal nicht ausprobiert. Weitere Spiele bedienen bestimmte Nischen, die nicht jedermanns Sache sind oder Bereiche abdecken, die nicht dem Vielspieler-Instinkt entsprechen (z.B. Escape oder Hanabi). Und drittens werden einige Spiele nicht als Überflieger klassiert, weil sie irgendwie nicht als Essen-Neuheit wahrgenommen werden. So waren auf der Messe Hanabi und Sentinels of the Multiverse zu sehen – letzteres in der stark verbesserten Neuauflage (für mich eine 9 nach BGG-Wertung). Beide Spiele kannte ich aber bereits vorher und daher habe ich sie nicht zu den Essen-Neuheiten zugerechnet. Ähnliches gilt für die (noch ungespielten) Ground Floor und Viva Java, die ich als Kickstarter-Spieler vorbestellt hatte. Und was ist eigentlich mit Andor? Die Berichte vor der Messe waren sehr enthusiastisch, warum war das Spiel kein Überflieger? Ich habs nicht gespielt, aber ich kann mir vorstellen, dass es ebenfalls schon als „Bekannt“ eingestuft wurde und zudem als kooperatives Spiel nicht in klassische Jagdmuster passt.

Unterm Strich glaube ich daher, dass es viele Spiele gab, die als „Überflieger“ deklariert hätten werden können, die spielerisch nicht unbedingt schwächer sind als etwa ein „7 Wonders“, die aber nicht den Fokus bekommen haben, weil sie im Vorfeld nicht als solche ausgemacht wurden. Ich bin jedenfalls guter Dinge, dass schon einiges ordentliches in der Messe den Weg in meine Tüten fand (zumindest Trains und Black Swan haben mir schon einmal sehr gut gefallen, aber dazu später vielleicht mehr…) und das ich nach der Messe noch einiges interessantes woanders entdecken werde (das Sierra Madre-Spiel z.B. könnte was sein – Kennt das schon jemand?)

Ich schließe mit ein paar Messesplittern:

– Mein Lieblingsspieletitel war „Voll auf die Glocke“

– Sonderpreis: „Abstruses Spiel“ geht an Japanese Tempel (oder so ähnlich) von Russian-Boardgames: Ein Spiel bei dem man Kartenhäuser baut. Alleine oder zu mehrt. Sonderkarten erlauben das Rütteln am Tisch. Dicht dahinter: Bumm Bumm Ballon, eine Art Ballon-Jenga: Stäbe werden in einen Ballon gesteckt, bis dieser platzt (Das Spiel habe ich mir sogar für meine Geburtstagsfeier besorgt)

– Haba glänzt mit tollem Service: Meinem Mitbringspiel (Nacht der magischen Schatten) fehlten die Karten. Gerade kam ein neues Spiel, mit fast vollständigem Material (nur Holzteile und die Lampe fehlten) als Ersatz. Vermutlich dr Konfektion geschuldet, aber dennoch: Hut ab!

– Taschkent lief wohl gut, stand aber natürlich (?) nicht im Fokus. Immerhin: Im Moment sind die Wertungen bei BGG zwar nicht gerade zahlreich aber positiv. Vielleicht hat das ja eine positive Wirkung auf die nahe Zukunft :-)

ciao

peer

Peer Sylvester
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5 Kommentare

  • Die „gefühlte“ Mittelmäßigkeit als Folge eines wachsenden und immer besser werdenden Spieleangebots ist eine interessante These.

    In der Vergangenheit habe ich meine Gleichgültigkeit gegenüber diversen Neuerscheinungen mir aufgrund gewachsener Erfahrung in meinem Hobby zugeschrieben. War anfangs noch alles neu und interessant, so kennt man mittlerweile viele Spiele und deren zentrale Mechanismen und ist einfach nicht mehr so leicht zu begeistern. Was früher ein „must have“ war, wird heute (von mir) als interessant, aber auch als nicht wirklich neu und als kein unbedingtes Muss bewertet.

    Daneben hat die Anzahl der veröffentlichten Titel und deren Qualität sicher deutlich zugenommen. Neben den Essen und Nürnberg Neuheiten gesellen sich auch noch die Crowdfunding Ideen.

    Einen für mich funktionierenden Filter, der mich auf interessante Neuheiten bringt, die in mir einen starken Kaufanreiz auslösen, habe ich noch nicht gefunden. Letztlich bin ich der „Schwarmintilligenz“ ausgeliefert. Was nicht in Blogs, Podcasts, Zeitschriften oder Foren besprochen wird fliegt unterhalb meines Radars. Insofern stimme ich der Einschätung zu, dass vieles als „Überflieger“ identifiziert werden könnte, wenn nur genug Aufmerksamkeit da gewesen wäre.

    Klar ist, dass viele Spiele auch deshalb so viel Aufmerksamkeit bekommen, weil sie entweder von angesagten Verlägen veröffentlich werden (Fragor, R&D, Splotter), gut beworben werden (Andor) und/order bereits im Vorfeld besprochen werden (Andor, Hanabi, Terra Mystica).

    Man merkt: So wirklich objektiv ist die wahrgenommene Wrklichkeit nicht.

    Und zuletzt: DIE Spieleperle zu finden, die es hinterher nicht mehr geben wird und nur für Mondpreise per Onlineauktionshaus verkauft wird, gibt es ohnehin nicht mehr. Was gut ist kommt auch wieder, meist in einer zweiten, oft überarbeiteten Auflage. Wenn es nicht wiederkommt, gibt es genug andere sehr gute Spiele. Insofern gleicht die Jagd nach dem heiligen Gral der Spiele auch einem Hamsterrad.

    Sind nicht mittlerweile auch erfolgreiche Titel des letzten Jahres günstig erhältlich? Wird „Die Burgen von Burgund“ nicht bereits für 25% Rabatt verkauft? Vielleicht sollte ich ein Jahr Essen aussetzen und mich in 2 Jahren auf die Neuerscheinungen von Essen 2013 freuen! ;)

  • Stimme dir voll zu! Das mit den Mondpreisen stimmt auch – und auch das ist ein Grund für die Mittelmäßigkeit. Viele Spiele werden deshalb hochgeschrieben, weil sie selten sind. Was kaum einer hat, ist schon per se toll… Werden die Spiele dann verfügbar, stellt man fest, dass sie doch nicht das mehrheitenlegende Workerplacementquartett sind. Am deutlichsten war das bei „Meine Schafe, Deine Schafe“ – in der französischen Version im Forum hochgelobt und als das „bessere Carcasssonne“ gepriesen, in der deutschen Version als „so lala“ und das „schlechtere Carcassonne“ abgewertet…

  • In einem Punkt ging es mir ähnlich wie Dir, ich sehe die Messe differenzierter als noch auf unserer Heimfahrt. Ich bereue es trotzdem nicht nur zwei Spiele gekauft zu haben und merke, dass meine Arbeit als Redakteur meinen Anspruch ganz massiv verdorben hat, mittelmäßig macht einfach keinen Spaß mehr.

    In einem Punkt möchte ich Dir widersprechen: Mittelmäßig impliziert keine große Anzahl, denn die mittlere Abweichung war bei manchen Spielemessen schon deutlich höher.

    … und Escape habe ich gestern in Vielspielerrunde gleich dreimal hintereinander gespielt, dreimal verloren und viel Spaß gehabt.

    Grüße in den Osten

  • Die Frage ist wohl wie man Mittelmaß definiert. Geht man statistisch heran, dann wird das Mittelmaß schon zu größten, zahlenmäßigen Menge, weil die Gaußsche Normalverteilung schlicht die größte Menge um den Erwrtungswert herum ansiedelt und es in beide Richtungen schlicht nur Abweichungen (Ausreißer) gibt.

    Weiterhin: Eine großere mittlere Abweichung (doppelte Standardabweichung) gibt nur an, wie viele der Werte von Mittel abweichen. Das Mittel selbst bleibt aber dennoch der zahlenmäßig größte Anteil, ansonsten würden wir nicht mehr vom Mittel sprechen, sondern müssten den Erwartungswert so verändern, dass erst gesagtes wieder zutrifft.