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Es gibt kein Weg zurück

Die Flut an Neuheiten ist kaum zu überblicken: In Essen werden 700 Neuheiten erwartet, mehr als je zuvor. Das ist nicht weiter überraschend, denn es sind ja auch mehr Aussteller und mehr Hallen als je zuvor. Überraschend höchstens die Reaktion der Blogosphäre, welche diese Entwicklung eher negativ aufnimmt. Auf ein Wort, Kollegen!

Ein häufiges Argument ist schwer zu wiederlegen: Für die Verlage wird es schwerer. Insbesondere für die mittelgroßen – die Großen haben die Masse, die sie in die Waagschale werfen können, die Kleinen können dank Internet besser agieren als sie es in Prä-Internetzeiten können. Aber natürlich ist die Gefahr eines Flopps, eines Untergehens, größer als je zuvor. Es ist kaum anzunehmen, dass alle Kleinstverlage, die dieses Jahr ausstellen, es auch ins nächste Jahr schaffen werden. (Siehe auch hier)

Andererseits: Das letzte größere Verlagssterben liegt schon lange zurück (Ende der 90er Jahre) und es gibt allen Unkenrufen zum Trotz keine Anzeichen für ein weiteres in näherer Zukunft. Von Kleinstverlagen mal ab (und die hatten es aus verschiedenen Gründen schon immer schwer) : Welche wichtigeren Verlage sind in den letzten Jahren draufgegangen? JKLM und Eagle Games z.B. Bei beiden liegen die Gründen für die Pleite aber in anderen Bereichen (bei JKLM das Schneeball-ähnliche Finanzierungsverfahren, bei Eagle Games die zu großen Projekte und die Abhängigkeit vom Pokersegment) und nicht an einer zu großen Konkurrenz. Natürlich ist das keine Garantie für die Zukunft, aber ich denke es gibt ein oft blind übersehendes Argument: Nicht nur die Anzahl der Verlage (und der Neuerscheinungen) ist enorm gewachsen, sondern auch die Anzahl der Spieler. Das schlägt sich nicht nur in den Besucherzahlen nieder, sondern vor allem in eben jenen künstlichen Welten des Internets: Wie man auf Seiten wie BGG sieht, wächst die Anzahl von Spielern täglich und fast schon exponentiell. Immer mehr Länder und Märkte werden übers Jahr erschlossen und damit finden auch mehr Nischenprodukte eine Zielgruppe. Natürlich können Spiele immer noch untergehen (siehe nächster Punkt), aber Spiele können eben auch schneller (wieder-)entdeckt werden. Das ein Spiel wie „Dominant Species“ (ein vier Stunden-Euro von GMT) relativ schnell komplett ausverkauft ist, ist ein Zeichen für die Macht des Internets und das Potential des Marktes. Um Verlage mit solidem Finanzierungskonzept muss man sich kaum Sorgen machen. Und was den Rest betrifft – der hatte es schon immer schwer…

Ein zweites Argument ist Wer soll das alles Kaufen? bzw. Wer soll über all die Spiele berichten? Das schafft doch keiner mehr.

Stimmt!

Äh, wieso ist das ein Problem? Ich glaube, das wird überhaupt nur deswegen als Problem wahrgenommen, weil es bisher ein bisschen anders war. Wer schon lange dabei ist, erinnert sich noch an die Zeit, als man die Neuheiten in Essen einigermaßen vollständig ohne große Vorbereitung in wenigen Tagen sichten konnte. Dieser Luxus ist jetzt weg. Ist das wirklich schlimm? Nur wenn man den Anspruch hat, wirklich alles zu kennen. Wer das aber denkt, der lügt sich schon seit längerem in die eigene Tasche. Spätestens seit 2000 ist die Spieleszene so international geworden, dass selbst der beste nicht alles kennen kann – Wer kennt Mage Master? Sentinels of the Megaverse? Kassen? Gespielt wird längst in Asien, Nord- UND Südamerika und Australien (von Europa ganz zu schweigen) und das schon eine ganze Weile. Erst in den letzten Jahren manifestierte sich die Szene auch in Essen, das heißt aber nicht, irgendjemand hätte jemals alles wissenswertes gekannt (und selbst wenn man in Europa bleibt, wird viel übersehen. Eines meiner diesjährigen Lieblingsspiele -Intrigo – wurde z.B. nur auf der Spielbar und auf Spieltest.at besprochen).

Mit anderen Worten: Wir sind alle sterblich. Ist das aber schlimm? Nein, denn wie gesagt, sollte man diesen Anspruch gar nicht haben. Niemand kennt alle Bücher der Buchmesse oder alle Computerspiele, alle Filme, alle Fahrradmodelle, alle möglichen Reiseziele, alle Restaurants… Wieso alle Spiele? Weil man früher mitkam? Wer so argumentiert, argumentiert für Stillstand, ja für Rückschritte in die Zeit, wo spielen noch ein absolutes Nischenhobby war, wo praktisch nur in Deutschland eine Brettspielszene herrschte. Er argumentiert gegen neue Impulse aus aller Welt. Das ist eine sehr egozentrische Weltsicht. Und eine unrealistische dazu.

Statt der Welt  sollte man sich lieber selbst ändern: Man findet sich damit ab, dass -egal wie groß der Kaufrausch ist – man nicht alles spielen geschweige denn kaufen kann. Man findet sich damit ab, dass man sich mehr informieren muss und dass man nicht immer als erstes eine Perle finden muss.

Die Spielewelt ist erwachsen geworden. Glückwunsch!

ciao

peer

Peer Sylvester
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6 Kommentare

  • Ich finde auch, dass man längst nicht mehr alle Neuheiten kennen muss. Ich habe mich von dem Zwang befreit, auch noch dem letzten Hype hinterherzulaufen, jede scheinbar unverzichtbare Neuheit kennen zu wollen. Das war nicht immer so, aber jetzt brauche ich das alles nicht mehr. Ich gehe uninformiert, aber neugierig zur Messe. Neugierig und unvoreingenommen. Infos aus dem Netz setzen mir nur Scheuklappen auf.
    Dass es zu viele Neuheiten gibt, scheint eh‘ nur ein Problem der Rezensenten zu sein. Als Spieler ist mir deren Anzahl doch eigentlich egal. Ich guck‘ mir nur die an, die mich auf der Messe begeistern können, die ich interessant finde. Den Top-10-Spielen laufe ich nicht hinterher, die gibt’s – sofern vergriffen – hinterher sowieso wieder und oft auch verbessert.
    Früher war natürlich alles besser, denn da konnte ich die Rosinen der Messe noch selbst entdecken und heraus picken. Früher war aber noch etwas anders: Manche Spiele gab es nur auf der Messe und dann nie wieder oder war nur sehr aufwendig zu beschaffen. Heute trifft beides nicht mehr zu.
    Aber wo führt die ganze Neuheitenflut hin? 80%, wenn nicht sogar 90% der Spiele fallen doch hinten runter, Erfolge sind Strohfeuer, weil morgen schon die nächsten Neuheiten auf der Matte stehen. Erfolge sind auch gewissermaßen nur noch ein Zufallsprodukt, denn wer entdeckt den Kracher bei den netten Japanern oder Koreanern? Oder bei sonst irgendeinem Verlag? Doch, die Fairplay-Scouts finden das. Ich schaue dann doch eher auf die Spiele, die nicht in den Top-10 vertreten sind oder mir von vertrauenswürdigen Spielern empfohlen werden. Letzteres hat schon damals vor 20 Jahren in Essen gut geklappt.

  • Kurz zu den Japanern/Koreanern etc. Ich denke die hätten natürlich gerne einen internationalen Hit, aber letztlich können die gut mit der Szene in ihrem Land überleben. Zumindest bei den Japanern war die Essenber Messe bestenfalls ein Nullsummenspiel, bei der es mehr darum geht, Kontakte mit Verlagen und Vertrieben zu knüpfen.
    Ich wage auch die Prognose, dass die Spieleszene in einem Jahrzehnt (bei stetigem Wachstum) wieder in die Kontinente zersplittert: Die kleinen Verlage werden auf Fachmessen in ihrem Kontinent bleiben, nur die größeren werden nach Essen kommen.

  • Hallo Peer,
    zunächst: Intrigo htten wir auch, du musst deutlich öfter reinschauen: http://de.trictrac.net/news-intrigen-im-arkadenquadrat.php
    Deine Analyse stimmt. Essen ist internationaler und voller geworden und man kann es nicht mehr überblicken wie früher. Rezensenten unken, aber man muss sich nun eben vorher seine Gedanken machen, was man überhaupt mitnehmen will.
    Und die Verlage sollten sich parallel dazu überlegen, wie sie an die Leute rankommt. Denn ob die Anzahl der Kunden bei wachsendem Angebot in den Jahren stieg, bleibt eine spannende Frage. Ich glaube nämlich, dass mehr Spiele sich die gleiche Zahl Käufer (zumindest in D, anders sicher in FR und USA) teilen müssen und dann stellt sich doch irgendwann die Frage der Wirtschaftlichkeit.

  • Oh, ich hatte nur Luding befragt, ich gucke zwar regelmäßig bei euch rein, aber alle Rezis merke ich mir nicht ;-)
    n der Anzahl der Leute kanns nicht liegen – man muss nur bedenken, was z.B. bei Kickstarter alles noch ZUSÄTZLICH zu den bestehenden Spielen finanziert wird. Da sind die Spiele ja nicht mal erschienen, wenig bis nix ist bekannt. Zwar mag die Anzahl der Leute in Essen begrenzt sein, die Anzahl der Spieler ist aber ungleich höher. Glücklicherweise ;-)
    Aber natürlich stimmt schon: Neue Konzepte brauchen die Verlage dennoch.

  • Ich glaube, was die Neuerscheinungen so aufbläht, sind auch die neuen Editionen und Nachfolger bekannter Spiele. Es reicht offenbar nicht, ein Spiel jahrelang auf dem Markt zu behalten, heute müssen immer noch weitere Zusatzspiele dazukommen.

  • […] der Stände wurde von ausländischen Verlagen betrieben. Peer hat dazu ja auch schon ein paar Gedanken formuliert und eine Zukunftsprognose abgegeben. Aus den Gesprächen mit Verlegern war dennoch in diesem Jahr – fast durchgehend – […]